Ein gigantisches Bauprojekt soll den geteilten Norden Madrids verbinden. Es soll sogar das größte seiner Art in Europa werden. Am Ende stünde ein ganz neuer Stadtteil. Doch bis dahin ist es noch ein langer Weg.
Der Norden Madrids gibt ein trostloses Bild ab: Durchschnitten von Eisenbahntrassen, Brachland und großen Parkplätzen der Automobilindustrie. Das passt nicht recht ins Bild der zweitgrößten Metropole in der Europäischen Union. Auch politisch ist Madrid zerstritten. Doch in einem Punkt sind sich alle einig – mehr oder weniger – und haben ein Bauvorhaben beschlossen, welches schon seit über 20 Jahren diskutiert wird. „Madrid Nuevo Norte“ heißt es auf Spanisch, der Neue Norden Madrid. Ein Areal, das sich, ausgehend vom Rand der Madrilenischen Innenstadt, 5,6 Kilometer weit in den Norden erstreckt und bis zu einem Kilometer breit ist. Die Kosten werden mit 7,3 Milliarden Euro beziffert. Genug Platz für neue Wohnungen, tausende neue Arbeitsplätze, weiträumige Grünflächen und wegweisende Ideen. Ende 2020 sollen die Arbeiten eigentlich beginnen.

Entlang der Schiene

Ausgangspunkt ist der Bahnhof Chamartín, der an die Innenstadt grenzt. Ein Koloss aus verklinkertem Beton, der den Charme eines ungepflegten Einkaufszentrums aus den Achtzigern verströmt. Er verbindet Madrid mit dem Norden Spaniens. Bereits Anfang der Neunziger, weit vor Stuttgart 21, gab es Pläne den Bahnhof samt Gleisanlagen in den Untergrund zu verlegen. Doch ständig wechselnde politische Mehrheiten brachten keine Einigung. Nun wird er neu gebaut und erweitert. Er soll das neue Zentrum der spanischen Hochgeschwindigkeitszüge aus dem ganzen Land und Knotenpunkt für den neuzuerschaffenden Stadtteil werden. 350 Gebäude sollen im Umfeld entstehen. Darunter auch Hochhäuser, die zu den größten des Landes gehören und die Skyline Madrids verändern werden. Ein Teil der Gleise wird nun in den Untergrund verlegt, was Platz schafft. Insgesamt stehen 2,6 km2 Entwicklungsfläche um Chamartín, über und entlang der Schienen und im Brachland zur Verfügung. Die Fläche soll vielfältig genutzt werden.
Der Parque Central und der Central Business District.

Die Lösung aller Probleme

Spanien hat auch nach überstandener Wirtschaftskrise und trotz gutem Wachstum in den letzten Jahren noch immer die zweithöchste Arbeitslosenquote der EU. Die Jugendarbeitslosigkeit betrug zuletzt 30 %. Und – wie bei uns in Deutschland – wird Wohnraum immer teurer. Mitschuld daran trägt der Rückgang des sozialen Wohnungsbaus und die sinkende Anzahl an Wohneigentum. Das klassisch-spanische Modell der Wohnungsbaugenossenschaften – gezahlte Mieten werden auf den ohnehin schon günstigen Kaufpreis angerechnet – findet kaum noch Anwendung, da viele Genossenschaften privatisiert sind. Die Mieten steigen jährlich um etwa 10 %. Im Durchschnitt kostet eine Wohnung in Madrid 1.300 € im Monat, während das Durchschnittseinkommen 1.500 € beträgt. Die Folge dieser prekären Entwicklung: Viele junge und gut ausgebildete Spanier sehen für sich keine Perspektive und verlassen die Stadt oder sogar das Land. Sie sollen nun gehalten werden. Dafür entsteht ein lebenswerter Stadtteil der kurzen Wege. Wohnen, Arbeiten, Versorgung und nicht zuletzt Freizeit – alles ist eng miteinander verknüpft. In Bahnhofsnähe befindet sich der neue „Central Business District“. Die Planer versprechen sich direkt und indirekt bis zu 250.000 neue Jobs für ganz Madrid. Das Bombast-Projekt soll den Anschluss zu den Weltmetropolen wiederherstellen und internationale Firmen in die Stadt ziehen.
 Aus der Vogelperspektive.

Schöner Wohnen

Ein Spielplatz inmitten des modernen Stadtgebiets.
Die meiste Wohnfläche wird im nördlichen Projektgebiet und entlang der Gleisanlagen geschaffen. 10.500 Wohneinheiten sind geplant, modern gestaltet und energetisch auf dem neuesten Stand. Die Gebäudedächer sollen begrünt werden. Dabei wird die Fläche gemischt genutzt. Geschäfte, Büros, öffentliche Einrichtungen und Wohnungen in nachbarschaftlicher Koexistenz. Alles soll fußläufig erreichbar sein. Um den Problemen auf dem Wohnungsmarkt zu begegnen und eine breite Schicht der Bevölkerung ansiedeln zu können, werden 20 % (2.100) als Sozialwohnungen errichtet. Vorgeschrieben sind nur 10 %. Ein Punkt über den lange zwischen Investoren und Politik gestritten wurde. Darunter fallen sowohl preisgünstige Eigentumswohnungen zur Selbstnutzung als auch Mietwohnungen mit festgelegten Mieten.

Eine neue Mobilität

Madrid besitzt eines der längsten Metronetze der Welt. Gemessen an der Anzahl an Stationen, ist es mit 302 das zweitgrößte Europas und das am zweitschnellsten expandierende der Welt. Seit 1994 hat sich das Streckennetz verdoppelt. Die Metro führt nicht nur durch die Stadt, sondern verbindet auch viele Vororte mit Madrid und das fast ausschließlich unterirdisch – die längste Linie ist 41 km lang. Doch auch sie bekam die Finanzkrise zu spüren. Geplante Erweiterungen wurden verschoben und seitdem steht die Instandhaltung und Modernisierung der vorhandenen Infrastruktur im Fokus. 660 Millionen Passagiere befördert sie jedes Jahr und die Tendenz ist steigend. Viele Linien kommen bereits an ihre Kapazitätsgrenze.
Das von Bäumen gesäumte Straßenbild mit bepflanztem Mittelstreifen und Zugang zur Metro.
„Madrid Nuevo Norte“ verwendet 20 % der Fläche für die Verkehrsinfrastruktur. Zu den bereits vorhandenen Eisenbahnlinien kommen weitere hinzu. Neben dem Ausbau des Bahnhofs Chamartín und der Fernverbindungen werden zwei weitere S-Bahn-Stationen gebaut. Die Metro wird um eine neue Linie erweitert und erhält drei neue Stationen. Es werden sowohl Schnellbusterminals, als auch Busknotenpunkte eingerichtet. So soll ein dichtes und ineinandergreifendes System aus öffentlichen Transportmitteln etabliert werden, welches den Umstieg auf den ÖPNV erleichtern und den Individualverkehr einschränken soll. 80 % des Transits in und aus dem Viertel soll mittels ÖPNV erfolgen. Auch Madrid ist betroffen von der Einhaltung der Emissionsgrenzwerte und der nötigen Reduzierung des Stickstoffdioxidausstoßes. Die Innenstadt ist bereits weitestgehend autofrei. Nur Anwohner und Lieferverkehr dürfen in die City einfahren. Zwar hat die Regierung diese Regelung letztes Jahr aufzuheben versucht, scheiterte aber nach wenigen Wochen am großen Widerstand. Der Verkehr nahm stark zu und die Grenzwerte wurden deutlich überschritten. Dagegen gingen 60.000 Madrilenen auf die Straße und letztendlich kassierte ein Gericht den Beschluss wieder ein. Zum letztjährigen Weihnachtsgeschäft wurden darüber hinaus auch die Haupteinkaufsstraßen komplett für den Individualverkehr gesperrt. Doch statt der von Einzelhändlern befürchteten Umsatzrückgänge, stiegen diese sogar um knapp 10 % an, im Vergleich zu den weiter befahrbaren Einkaufsstraßen. Folglich wird eine dauerhafte Einrichtung neuer Fußgängerzonen vielerorts diskutiert.

Farbe Grün

Ein Überblick über den Park Fuencarral und die zahlreichen begrünten Hausdächer.
Um eine gesunde und lebenswerte Atmosphäre zu schaffen sind 15 % des Projektgebiets, etwa 400.000 m2, für Grünflächen vorgesehen. Natur spielt eine große Rolle in den Planungen. Die Aufenthalts- und Wohnqualität profitiert von der Anlage weiträumiger Parks und Gärten und die CO2-Emission kann teilweise aufgefangen werden. Das lokale Klima profitiert von der regulierenden Wirkung von Pflanzen und Bäumen. Das ist ungemein wichtig für Madrid, da es sich auf einer Hochebene befindet, sehr heiße Sommer und sehr kalte Winter erfährt, dabei aber nur geringe Niederschläge fallen.

Mit den bereits bestehenden umliegenden Parkanlagen bildet sich ein umfangreiches grünes Netzwerk. Zwei besondere Projekte stechen dabei nochmal heraus: Der „Parque Central“ ist eine neuer Park, der auf dem Bahnübergang von Chamartín entsteht. Er stellt die direkte Verbindung der bisher von den Schienen durchtrennten Stadtteile her. Mit einer Fläche von 13 Hektar ist er ein Naherholungsgebiet, das Menschen aus der ganzen Stadt anlocken soll. Einzigartig macht ihn sein besonderes Landschaftsdesign, eingebettet zwischen Geschäftsviertel und dem Bahnhof Chamartín. Entlang der Hauptverkehrsadern, die aus der Stadt führen, entsteht eine grüne Lunge. Ein Parkstreifen, verbunden mit vielen weiteren Grünflächen des Stadtviertels. Er stellt eine natürliche Verbindung der Stadt zu den Hügeln am Stadtrand dar. Die Straßen werden ebenfalls begrünt. Alleen und bepflanzte Mittelstreifen verbessern das städtische Klima und helfen auch die Stickstoffdioxidkonzentration entlang der Straßen zu reduzieren. Darüber hinaus sind die meisten Gebäude und Dächer selbst begrünt. So trägt die bebaute Fläche trotzdem zum Mikroklima bei, verbessert aber auch die energetischen Eigenschaften der Häuser. Dachgärten wirken zusätzlich isolierend. Im Sommer senken Pflanzen spürbar die hohen Temperaturen, die ein Dach aufnimmt und wieder abstrahlt und an kalten Tagen dient die Vegetation als Puffer und verringert die Auskühlung. Außerdem ist ein gemeinschaftlicher Dachgarten ein Ort der Begegnung für die Bewohner und leistet somit auch einen sozialen Beitrag.

Grün ist also die dominierende Farbe von Madrid Nuevo Norte.

Im Fokus der Kritik

Wie bei jedem Bauprojekt und erst recht dieser Größenordnung ist Madrids Neuer Norden umstritten. Das fing schon bei Beginn der ursprünglichen Planung in den 90er Jahren an und erstreckt sich bis heute. Gegenstand der Kritik sind unter anderem die immensen Kosten, die im Laufe der Bauzeit voraussichtlich weiter steigen werden, und die Nutzungsaufteilung. Stand heutiger Planung werden 60 % der zu bebauenden Fläche für Dienstleistungen vorgesehen, sprich Büros, Praxen, Hotels und Restaurants. Dagegen steht nur rund ein Drittel für Wohnraum zur Verfügung. Doch es scheint, als wäre gerade der Wohnungsmarkt Madrids größtes Problem. Lange wurde auch über die Rate an bezahlbaren und sozialgeförderten Wohnungen, welche im letzten Schritt auf 20 % erhöht wurde, gestritten. Dem gegenüber stehen aber 80 % im hochpreisigen Sektor. Nur wenige werden sich einen Umzug dorthin leisten können. In der Konsequenz ist ein wenig sozialdurchmischtes Viertel zu befürchten, das die Wohnungsknappheit noch verschärfen kann. Die Schaffung neuer und gewiss auch notwendiger Arbeitsplätze kann den Druck auf andere Bereiche der Stadt erhöhen, die durch Zuzug schon jetzt aus allen Nähten platzen.

Ebenfalls zu beachten ist die Versiegelung des Projektgebiets. Zwar entledigt man sich auch vieler Hindernisse und störenden Altlasten, wie Teilen der Gleisanlage und Parkplätzen, doch das allermeiste Bauland besteht aus Brachflächen, die der Natur abgerungen werden. Die Schaffung neuer Parkanlagen und Begrünungen vermag das nicht vollumfänglich aufzufangen. Dennoch sucht man hier den Kompromiss zwischen Natur und Stadt, der wichtig und nötig ist. Verschiedene Bürgervereine, Naturschutzverbände und Aktivisten protestieren gegen Madrid Nuevo Norte und überschütten das Rathaus mit über 3.200 Beschwerden und Klagen. Bis über diese entschieden ist, verschiebt sich der Bau bis frühestens Ende 2020. Zwar gibt es noch keine offiziellen Informationen dazu, doch ist zu erwarten, dass die Corona-Krise, die besonders Madrid schwer getroffen hat, einen weiteren Aufschub erwirken wird. Ab Baubeginn erfolgen die Maßnahmen dann etappenweise. Mit der Fertigstellung ist laut Zeitplan nicht vor 2037 zu rechnen.

Bis zur Vollendung bleibt also noch viel Zeit, die zeigen muss, ob sich Madrid Nuevo Norte den Menschen der Stadt als nützlich erweist. Denn letztendlich sind Städte ein Lebensraum von und für Menschen.

Das Areal im Überblick: Madrid Nuevo Norte ausgehend vom Bahnhof Chamartín bis in die Hügel von El Pardo.
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